Neurodivergente Kinder und Trennungsängste

Warum sie intensiver reagieren – und wie wir sie sicher begleiten können

Trennungsängste gehören zu den häufigsten Herausforderungen im Kindesalter. Doch bei neurodivergenten Kindern (z. B. mit ADHS, Autismus, Hochsensibilität oder Entwicklungsbesonderheiten) zeigen sich diese Ängste oft früher, stärker oder anhaltender.
Nicht, weil die Eltern etwas falsch machen, sondern weil diese Kinder Trennung anders wahrnehmen, anders verarbeiten und oft mehr Sicherheit benötigen als neurotypische Kinder.

Dieser Artikel möchte Verständnis schaffen – und praktische Wege zeigen, wie Eltern und Bezugspersonen neurodivergente Kinder gut durch Übergänge, Abschiede und Trennungen begleiten können.


1. Warum neurodivergente Kinder Trennungen stärker erleben

Neurodivergenz betrifft nicht nur Verhalten oder Wahrnehmung –
sie beeinflusst auch Bindung, Regulation, Reizverarbeitung und Zeitempfinden.

Typische Gründe für intensivere Trennungsängste:

🔸 1.1 Reizüberflutung & fehlende Filter

Viele neurodivergente Kinder erleben die Welt lauter, schneller, unvorhersehbarer.
Eine Bezugsperson ist für sie ein Regulationsanker. Fällt dieser weg, fehlt gefühlte Sicherheit.

🔸 1.2 Schwierigkeiten mit Übergängen

Transitionsprobleme („switching“) sind bei vielen Kindern mit ADHS oder Autismus sehr ausgeprägt. Trennung ist ein massiver Übergang – unvermittelt, abrupt, emotional.

🔸 1.3 Unsicheres oder verändertes Zeitgefühl

„Wann kommst du wieder?“ ist keine Kleinigkeit.
Zeitempfinden ist bei vielen neurodivergenten Kindern noch nicht stabil entwickelt – Trennung fühlt sich dadurch größer und bedrohlicher an.

🔸 1.4 Existentielle Angst

Für manche neurodivergente Kinder ist eine Trennung nicht „Mama kommt später wieder“, sondern: „Ich verliere meine wichtigste Person.“ Das ist keine Übertreibung, sondern ein echtes Angsterleben.


2. Der Blick hinter das Verhalten

Wenn ein neurodivergentes Kind beim Abschied weint, klammert, schreit, „blockiert“ oder scheinbar „überreagiert“, ist das kein Trotz.

Es ist häufig:

  • Überforderung
  • Regulationseinbruch
  • Bindungsstress
  • Kommunikationsnot
  • oder ein Schutzsystem, das Alarm schlägt

Die Aufgabe der Erwachsenen ist nicht, diese Gefühle wegzumachen – sondern sie zu verstehen und zu halten.


3. Was Eltern oft übersehen (dürfen)

Viele Eltern neurodivergenter Kinder tragen enorm viel Verantwortung.
Sie kennen die Bedürfnisse ihres Kindes gut, sind aber gleichzeitig verunsichert, weil vieles „anders“ läuft als bei anderen Familien. Trennungsängste sind kein Erziehungsfehler.

Sie sind häufig:

  • ein Entwicklungsphänomen
  • ein neurobiologischer Prozess
  • oder ein Bindungsthema, das gesehen werden möchte

Eltern dürfen entlastet werden – nicht zusätzlich belastet.


4. Wie wir neurodivergente Kinder gut begleiten können

Hier einige therapeutisch fundierte, alltagsnahe Ansätze:

Mikrotrennungen üben – sicher, kurz und kontrolliert

„Mikrotrennungen“ sind kleine, kurze, gut vorbereitete Situationen:
z. B.

  • „Ich gehe 30 Sekunden ins Bad, du bleibst beim Lego.“
  • „Ich hole schnell die Post und komme sofort wieder zurück.“

Dabei geht es nicht um „Aushalten“, sondern um:

  • Vorhersehbare Struktur
  • Sofortiges Wiederkehren
  • Positive Erfahrung: „Mama geht und kommt zuverlässig zurück.“

So baut das Kind (und das Nervensystem!) Sicherheit auf.

Vorhersehbarkeit schaffen

Ein klarer Ablauf hilft enorm:

  • visuelle Pläne
  • kurze Sätze
  • konstante Rituale
  • klare Ankündigungen (5-Minuten-Regeln)

Übergänge werden dadurch weniger bedrohlich.

Co-Regulation vor der Trennung

Nicht erst beim Abschied, sondern davor:

  • Körperkontakt
  • Atemübungen
  • gemeinsames Atmen oder zählen
  • ruhige Sprache
  • Blickkontakt

Ein reguliertes Kind kann leichter loslassen.

Gefühle spiegeln – ohne zu dramatisieren

Z. B.:

„Du fühlst dich unsicher, wenn wir uns trennen. Ich sehe das.“
„Es ist schwer für dich, aber ich komme wieder. Du bist sicher.“

Das beruhigt das Nervensystem – und das innere Erleben.

Bezugspersonen klar benennen

Neurodivergente Kinder brauchen manchmal deutlicher als andere:

  • Wer ist da, wenn Mama/Papa nicht da ist?
  • Was passiert in der Zwischenzeit?
  • Wann wird abgeholt?

Unklarheit verstärkt Angst.

Existentielle Ängste ernst nehmen

Wichtig: Bestehende Ängste nicht bagatellisieren.

Sicherheitsbotschaften wirken nur, wenn das Kind spürt: „Mein Gefühl darf da sein.“

Wann Unterstützung sinnvoll ist

Eltern müssen das nicht alleine tragen. Externe Begleitung ist besonders hilfreich, wenn:

  • Trennungen seit Monaten extrem schwierig sind
  • das Kind Panik, Regression (Nässen, Rückzug), Schlafprobleme zeigt
  • Eltern selbst an ihre Grenzen kommen
  • Übergänge (Kita, Schule) kaum gelingen
  • das Kind neurodivergent ist und sehr stark auf Veränderungen reagiert

Eine systemische, bindungsorientierte und neurodiversitätsinformierte Begleitung kann entlasten – und Wege aufzeigen, die wirklich zum Kind passen.


6. Fazit

Neurodivergente Kinder brauchen Trennungen nicht „trainieren“, sondern sicher erleben.

Mit Mikrotrennungen, klaren Strukturen und feinfühliger Begleitung können Eltern ihren Kindern helfen, Vertrauen aufzubauen – in sich selbst und in die Welt.

Trennungsängste sind keine Schwäche, sondern ein Ausdruck tiefer Bindung.
Und sie lassen sich gut begleiten, wenn wir sehen, was das Kind wirklich braucht.

Viele Eltern fragen sich, ab wann Trennungsängste oder Verhaltensreaktionen ihres Kindes Anlass für Unterstützung sind.
Wenn Sie sich orientieren möchten oder eine fachliche Einschätzung brauchen, bin ich gerne für Sie da.

Ich begleite Sie systemisch, bindungsorientiert und neurodiversitätsinformiert – im Tempo Ihrer Familie.
Kontaktieren Sie mich gerne für ein unverbindliches Kennenlernen.

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